REISEN 83 Fotos: Gianluca Cecere/laif für DIE ZEIT (l.); Mauritius Images (r.); ullstein (u.) 4. Oktober 2012 DIE ZEIT No 41 Bis zu seiner Schreckenstat lebte Gesualdo in der Altstadt von Neapel. In der Kirche Gesù Nuovo (links) liegt er begraben Sympathie für einen Teufel Carlo Gesualdo war ein genialer Komponist – und ein Mörder. In seiner Heimatstadt Neapel wurde er lange Zeit verachtet. Erst jetzt, vor seinem 400. Todestag, ertönen seine Madrigale wieder in Kirchen und Palästen VON MICHAEL OBERT F ünf Stimmen erheben sich, leise erst, dann immer lauter und eindringlicher, bis sie einem Schauer über den Rücken jagen. Wie ein Sammelsurium aus schwer zu fassenden, fremden Lauten umflirren sie den Künstler Lello Esposito in seinem Atelier in einem Gewölbekeller in der Altstadt von Neapel. Ganz in Schwarz gekleidet, die kräftigen Hände ausgestreckt, wiegt sich Esposito vor einer leeren Leinwand in dem geheimnisvollen Gesang. Seine Augen sind geschlossen. Die Stadt, die draußen pulsiert, hat für ihn aufgehört zu existieren. Ein Schmerz durchdringt diese Musik, doch auf einmal schwingt sie sich zu einem hellen Wohlklang auf. Esposito öffnet die Augen. Seine Finger tauchen in einen Farbtopf. Rot. Es ist, als hätten die fünf Stimmen die Farbe für ihn gewählt, als führten sie jetzt seine Hand über die Leinwand, entlang der Konturen eines Gesichts, während sie das Gewölbe durchfluten. Unfassbar, dass diese zauberhaften Klänge das Werk eines Mörders sind. In einer kühlen Oktobernacht im Jahr 1590 massakrierte Don Carlo Gesualdo, Prinz von Venosa, in seinem Palast in Neapel seine Frau und ihren Liebhaber. Nach dem Doppelmord, munkelt man, hätten sich Gesualdos Seelenqualen Bahn gebrochen in seiner Musik. Für den Rest seines Lebens komponierte er die schönsten Madrigale, ergreifende Renaissancegesänge, meist für fünf Stimmen. Gesualdo ist eine der schillerndsten Figuren der Musikgeschichte, gefeiert und geliebt von einer weltweiten Fangemeinde. In seiner Heimatstadt Neapel hingegen ist die Erinnerung an das Genie von seiner Gräueltat überschattet. Gesualdos Palazzo sei verflucht, heißt es in der Nachbarschaft. Er habe die Genitalien seiner Opfer verstümmelt, wuchern die Gerüchte, ihre Leichen auf den Stufen des Palazzos verfaulen lassen. Ver- Musik. Chromatische Wendungen, schmerzliche rückt sei er gewesen, ein Monster. Seine Musik Harmonik und große Melodiesprünge laden gerakennt in Neapel kaum jemand. Eine kleine Grup- dezu ein, in Gesualdos Kompositionen ein Echo pe von Aficionados um den Künstler Lello Espo- seiner Schreckenstat zu vernehmen. Für Esposito hingegen sind seine Madrigale sito will den Meister nun rehabilitieren und seine Musik in Neapel wieder bekannt machen. Im pure Inspiration. Er hört sie oft bei der Arbeit. Die fünf Stimmen seien wie kommenden Jahr feiern Gesuineinanderflutende Strömunaldos Anhänger seinen 400. gen, die ihn mitrissen, geradeTodestag. wegs hinein in die Schlieren »Hier ist es passiert, genau und Strudel seiner Gemälde. hier«, sagt Esposito, ein kleiner »Wir Neapolitaner haben dieMann mit schelmischem Blick ses Herz, das direkt mit dem und Farbresten unter den FinKopf verbunden ist«, sagt gernägeln. Seine Atelierräume Esposito, während er die Hand sind in Gesualdos Palast untererneut in die Farbe taucht, um gebracht, dem Palazzo Sansedas Gesicht auf der Leinwand vero im historischen Zentrum herauszuarbeiten. »Aber Herz von Neapel. Weiß getünchte und Kopf ziehen uns in verWände, gut erhaltene Fresken. schiedene Richtungen, in uns Auf Stufen aus Vulkangestein tobt ein ständiger Kampf.« stieg der Prinz einst die Wendeltreppe hinauf zu den Ge- Bildnis von Carlo Gesualdo Deshalb vergingen in Neapel mächern seiner Frau. Drei (links) in der Kirche Santa Maria zwischen Lachen und Weinen Fenster gehen hinaus auf die delle Grazie im Ort Gesualdo oft nur Sekunden, verstärkten Piazza San Domenico Maggiosich Gefühle über die Maßen. re, einen der lebendigsten Plätze der Altstadt. Die neapolitanische Seele. »In Gesualdos Musik Das Bett, in dem das Verbrechen geschah, ist spüre ich sie ganz deutlich«, sagt Esposito. Im komnicht erhalten. »Aber die Wände verströmen noch menden Jahr will er im Palazzo Sansevero die MaGesualdos Musik«, sagt Esposito, während er drigale des Meisters aufführen lassen – erstmals seit durch den Palazzo spaziert. »Und nachts geht der Jahrhunderten. »Gesualdos Musik gehört zu NeaGeist seiner Frau hier um.« Auf den Videos seiner pel«, so Esposito. »In 400 Jahren ändert sich vieles, Überwachungskameras sei manchmal ein selt- aber die Straßen behalten ihre Ecken.« sames weißes Leuchten zu sehen. Vom Palazzo Sansevero aus führt Gesualdos Wie auf ein geheimes Signal heben die fünf Spur durch die verwinkelten Gassen der Altstadt. Stimmen erneut aus Espositos Lautsprechern an: Fassaden bröckeln; überall trocknet Wäsche. Auf »Geht, meine Seufzer, / Eilet im Fluge. / Zu der, schmalen Bürgersteigen sitzen Großfamilien und die Ursach’ meiner herben Qualen« Der Chor genießen die Brise, die vom Hafen heraufzieht. verwebt Gesualdos Verse zu einem Labyrinth. Männer mit hochgekrempelten Ärmeln spielen Seine Dissonanzen stoßen an die Ränder der Karten. Vergessene Topfpflanzen auf verwitterten Balkonen, vertrockneter Efeu. Das Sonnenlicht dringt – gespiegelt von einander gegenüberliegenden Fenstern – im Zickzack zum Grund der Gassenschluchten, die sich im Süden der Altstadt auf die Piazza del Plebiscito öffnen. An der Stirnseite des großzügigen Platzes, am Portal der Nationalbibliothek, rezitiert der obdachlose Vernesio Verse aus Dantes Göttlicher Komödie; vor ihm ein Karton mit Münzen, daneben eine weiße Gans auf einem Bein. Drinnen, in einem klimatisierten, fensterlosen Raum mit einer Handvoll Lesepulten, zieht der Archivar behutsam ein brüchiges Dokument aus dem Regal. Der Untersuchungsbericht der Gran Corte della Vicaria zu Neapel vom 27. Oktober 1590 zeichnet ein messerscharfes Bild der Mordnacht im Palazzo Sansevero: In Jagdstiefeln und Lederwams stürmt Don Carlo Gesualdo in sein Schlafzimmer, seine Hand umklammert einen Dolch, hinter ihm Diener mit Gewehren. »Tod dem Hundsfott!«, brüllt er, das Gesicht rot vor Wut. »Tod der Hure!« Gleich darauf sind Schreie zu hören, Schüsse krachen; dann ist es totenstill. Am Morgen findet die Polizei Donna Maria d’Avalos, Gesualdos hinreißend schöne Gemahlin, auf dem Bett ausgestreckt. Ihre Kehle ist durchschnitten, ihr Nachthemd blutgetränkt. Gesicht, Brust, Arme, Hände sind gezeichnet von Stichen. Am Boden: Fabrizio Carafa, Herzog von Andria. Eine Kugel hat ihn am Kopf erwischt. »Ein wenig Hirn lief aus«, heißt es im Bericht, bevor dieser Schnitt- und Stichwunden an Carafas »Kopf, Gesicht, Hals, Brust, Bauch, Nieren, Armen, Händen und Schultern« auflistet. Dolche und Schwerter seien mit solcher Wucht in seinen Körper gerammt worden, dass sie tiefe Löcher im Steinboden des Schlafzimmers hinterließen. Fortsetzung auf S. 84 ANZEIGE Europas umfassendstes Reise-Programm Bahnreisen für Entdecker Als Europas größter Veranstalter für Bahnreisen gestalten wir seit über 25 Jahren außergewöhnliche Reise-Programme in aller Welt. 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DZ ab 270 Euro Fondazione Gesualdo: Die 2004 gegründete Stiftung plant für 2013 Konzerte mit Gesualdos Madrigalen in der Burg in Gesualdo; ein Kurzfilm über sein Leben soll gedreht und ein Archiv angelegt werden. www.facebook.com/FondazioneCarloGesualdo, www.fondazionecarlogesualdo.it (in Arbeit) Literatur: Glenn Watkins: »Carlo Gesualdo da Venosa. Leben und Werk eines fürstlichen Komponisten«. Matthes & Seitz, Berlin 1998; 509 S., 49,80 € (nur antiquarisch) Auskunft: ENIT Italienische Zentrale für Tourismus, Barckhausstraße 10, Frankfurt am Main, Tel. 069/23 74 34, www.enit.it Piazza San Domenico Maggiore C or s o nap ol i Piazza del Plebiscito Nationalbibliothek A www.zeit.de/audio Bis 31.10.2012 buchen und entspannt auf den Urlaub freuen! FrühBUchEr-PlUS Spaen Sie 150 € Doppete Vofeude mit Fbue-Pus-Emäßigung! 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DZ ab 100 Euro Via C Der Maler Lello Esposito hat sein Atelier in Gesualdos Palazzo Anreise: Direktflüge von vielen deutschen Städten, z. B. mit Air Berlin, Lufthansa oder Germanwings le Im kampanischen Ort Gesualdo verbrachte der Komponist seine letzten Jahre Neapel nu e »Carlo war ein Mörder, gut, aber vergessen wir doch bitte seine Madrigale nicht!«, sagt Massimo Maciocia, ein pensionierter Ingenieur, der nur ein paar Häuser von Gesualdos Palazzo entfernt wohnt. Der 70-Jährige gehört wie der Künstler Lello Esposito zu der Gruppe von Gesualdos Verehrern, die ihn in Neapel rehabilitieren wollen. Rot gerahmte Brille, blau-weiß gestreifte Weste, Hose aus weißem Segeltuch. Bei seinem Abendspaziergang durch die Altstadt rufen die Leute dem Professore Grüße zu. Seit fast zwanzig Jahren beschäftigt er sich leidenschaftlich mit Gesualdo. »Seine Musik kriecht in dich hinein, greift nach deiner Seele und hat es nicht eilig, sie wieder loszulassen«, sagt Maciocia; dann zeigt er auf einen Renaissancepalast: »Fabrizio Carafas Palazzo.« In einem Käfig vor einem der Fenster unterhält ein Kanarienvogel die Passanten mit seinem Gesang. Gleich um die Ecke schimmert das gelbe Laternenlicht auf dem abgewetzten Pflaster der Spaccanapoli, der Hauptschlagader der Altstadt. »Über diese Steine ging Fabrizio, wenn er Maria besuchte«, sagt Maciocia. Eine Vespa rast vorbei, den Korb auf dem Gepäckträger gefüllt mit frischem Mozzarella. Ob Carafa in jener Nacht ahnte, was ihm bevorstand? Fabrizio – verheiratet, vier Kinder – sei ein wunderschöner Mann gewesen. »Maria hat ihn geliebt«, davon ist Maciocia überzeugt. »Und sie hat nicht zugelassen, dass ihr Gatte, ihre Familie, die Kirche oder sonst wer diese Liebe zerstörten.« Sie sei bereit gewesen, dafür zu sterben. Eine Ikone der Freiheit. Maciocia bleibt stehen. »So sind wir Neapolitaner«, sagt er mit einer ausschweifenden Geste: »Wir hassen es, festgelegt zu werden.« In Gesualdos ungewöhnlichen Melodiesprüngen trete dieser Wesenszug deutlich hervor. Tief im Innern seiner Musik, so Maciocia, verspüre er die Nähe einer Welt, die seine Stadt einst zum Zentrum der Renaissance gemacht habe und die bis heute in Neapels Bauwerken, in seiner Kunst und seinen Menschen fortwirke. »Carlo war einer von uns«, sagt der Professore. Um ihn »heimzuholen«, wie er sich ausdrückt, hat Maciocia ein Theaterstück über Leben und Werk des Prinzen geschrieben. Ein Jahr lang haben sie geprobt. Am Tag vor der Premiere brannte »Maria« mit »Fabrizio« durch; seither liegt das Stück auf Eis. Gesualdo macht es seinen Anhängern in Neapel nicht leicht. Seine Heimkehr gleicht einer Odyssee. Schon zu seinen Lebzeiten begannen sich die Komponisten von der komplexen Polyfonie der Madrigale abzuwenden, hin zur Dominanz Olivenhainen. Weit und breit kein Mensch. Die Burg wird seit Jahren restauriert und steht leer. Den Schlüssel hat Carmine Caraccolo. Nach dem Besucherbeauftragten von Gesualdo, einem Kaff mit ein paar Hundert Einwohnern, fragt man am besten im Caffè Neviera; davor parken Traktoren. Nach einer Weile kommt der massive Mann in Cordhosen und gestreiftem Hemd angelaufen. Ackerboden klebt an seinen Schuhen. Viel scheint sich seit Strawinskys Besuch nicht verändert zu haben. Noch vor wenigen Jahren, gibt Caraccolo verlegen zu, hätten die Leute im Dorf die Augen niedergeschlagen und sich bekreuzigt, wenn die Sprache auf den Prinzen kam. »Als sei ihnen der Leibhaftige begegnet.« Um die Burg machte man einen weiten Bogen. Gesualdos Musik kannte niemand. Erst in jüngster Vergangenheit ist der Ruhm, den seine Madrigale weltweit genießen, bis in diesen entlegenen Winkel Süditaliens vorgedrungen. Die Fondazione Gesualdo, eine lokale Stiftung, die sich neuerdings um das Erbe des Komponisten kümmert, will in der Burg zum 400. Todesjahr einen Kurzfilm über das Leben des Meisters drehen. Ein umfangreiches Archiv soll angelegt werden. Madrigalkonzerte sind geplant. Und sein Grab? Caraccolo geht voran in die Kirche, die Gesualdo nach dem Doppelmord stiftete. »Hier ruht unser Prinz«, sagt er und zeigt auf die Bodenplatten. »Genau hier, wo wir gerade stehen, direkt unter unseren Füßen.« Fünf Stimmen heben an. Da ist sie wieder. Gesualdos Musik. Wie einem Traum entschwebt, erfüllt sie mit einem Mal das Kirchenschiff, während Caraccolo in seiner Bassstimme davon erzählt, dass in den geheimen Archiven des Vatikans kürzlich ein Dokument aus dem Jahr 1630 auftauchte. Es belegt, dass der Prinz damals, 17 Jahre nach seinem Tod, in seiner Kirche in Gesualdo bestattet war. Immer eindringlicher klingen jetzt die fünf Stimmen, immer kraftvoller entfaltet sich ihre Magie, so rätselhaft und fantastisch wie Gesualdos Leben selbst. Mit speziellen Instrumenten haben Caraccolo und seine Leute das Erdreich unter den Bodenplatten scannen lassen. Und festgestellt, dass dort unten etwas liegt, was in Form und Maßen einem Sarg sehr nahekommt. »Noch dieses Jahr reißen wir den Kirchenboden auf«, sagt Caraccolo. »Wir holen unseren Prinzen zurück ans Licht.« Die fünf Stimmen entflammen in melancholischer Ekstase. Als hießen sie Don Carlo Gesualdo zu Hause willkommen. Via Toledo Fotos: Michael Obert für DIE ZEIT Fortsetzung von S. 83 in seinem Film Gesualdo. Tod für fünf Stimmen als geisteskranken Mörder – extravagant, vereinsamt, womöglich im Pakt mit dem Teufel. Und sogar in Thomas Manns fiktivem Komponisten Adrian Leverkühn wollen Experten neuerdings Reminiszenzen an Gesualdo erkennen. Die musikalische Welt ist im »Gesualdo-Fieber«. Doch in den Straßen Neapels kennt man nicht einmal seine letzte Ruhestätte. Don Carlo Gesualdo? Meister des Madrigals? Star des Cinquecento? Wo ist er begraben? Überall nur fragende Blicke und Kopfschütteln. Der Prinz der Finsternis starb 1613 im Alter von 47 Jahren. Für den Doppelmord war er nie bestraft worden. Das Gericht entschied auf Ehrenrettung. Gesualdo zog sich auf seine Burg in Kampanien zurück, wo er für den Rest seines Lebens komponierte. Seine späten Madrigale handeln von Folterqualen, Schmerz und Gram. Eine Art musikalisches Tagebuch, denn am Ende soll er einem masochistischen Wahn verfallen und an den Folgen der Auspeitschungen durch zehn oder zwölf Diener gestorben sein, die er sich angeblich speziell zu diesem Zweck hielt. Sie sollen ihn auch ermahnt haben, bei der Tortur freudig zu lächeln. Gesualdos Grab liegt, wie sich nach längerer Suche herausstellt, in der Kirche Gesù Nuovo im Herzen der Altstadt. Die meisten Gläubigen zieht es hinüber zur Kapelle von Moscati, dem heiliggesprochenen Armenarzt, den die Neapolitaner um Gesundheit und Heilung bitten. In einem Beichtstuhl sitzt einsam und verlassen ein Priester, Gesicht und Glatze von einer Neonröhre beschienen. Gleich daneben, versteckt im linken Seitenschiff, ist Gesualdos Name in eine Marmorplatte gemeißelt; darüber prangt sein Familienwappen mit dem aufgerichteten schwarzen Löwen. Hier also ruht der Prinz von Venosa. Seltsam nur: Gesualdo starb 1613 auf seiner Burg in Kampanien, der Kirchenflügel in Neapel, in dem er begraben sein soll, wurde jedoch erst 1645 fertiggestellt. Gesualdo hatte keine Nachkommen; sein Geschlecht starb mit ihm aus. Wer also sollte seine Überreste nach Neapel gebracht haben – Jahrzehnte nach seinem Tod? Die Spur führt in östlicher Richtung hinaus aus der Stadt. Im Hinterland Kampaniens trägt ein kleiner Ort Gesualdos Namen. Dort steht die Festung, in die er sich nach der Tat zurückzog und über die Igor Strawinsky auf seiner Pilgerreise im Sommer 1956 notierte: »Auf Gesualdos Burg residierten ein paar Hennen, eine junge Kuh und eine grasende Ziege.« Das Bollwerk erhebt sich am Ende einer schmalen Landstraße über Getreidefeldern und tor io E ma einer Solostimme, vor allem in der Oper. Gesualdos Musik geriet jahrhundertelang in Vergessenheit. In den 1950er Jahren entdeckte Aldous Huxley dieses »musikalische Niemandsland« wieder. In seinem Essay Die Pforten der Wahrnehmung beschreibt er, wie er sich den Madrigalen im Meskalinrausch hingab. Auch Igor Strawinsky war besessen von Gesualdo und äußerte, dem sechsten Madrigalbuch des Neapolitaners zu lauschen sei, wie 23 exquisite Kaviarhäppchen zu verspeisen. Strawinsky unternahm zwei Reisen in Gesualdos Süditalien, kopierte ein halbes Dutzend Madrigale von Hand und ließ ihr Echo in seine eigene Sakralmusik einfließen. Sympathie für einen Teufel V it 84 4. Oktober 2012